Band II: Im Sturmgebraus. Erlebtes aus den Jahren 1890 bis 1914

Inhalt Band II

Des Kaiserreiches Kampf und Sturz - Die süddeutsche Perspektive (Auszug)

Wenn man im Theater ist, kommt es vor allem darauf an, dass man einen guten Platz hat. In dem blutigen Weltdrama, das sich vor uns erschüttert Mitbetroffenen entfaltete, waren mir gewiss keine schlechten Plätze zugefallen. Vom Jahre 1908/09 bis zum Jahre 1923 wohnte ich in München, dann übersiedelte ich nach Berlin, konnte also während des ersten Weltkrieges das, was in der Südhälfte Deutschlands gedacht, gehofft und gefürchtet wurde, von der süddeutschen Hauptstadt aus Tag für Tag verfolgen. Dann, nachdem der Kaisertraum und auch der Wittelsbachertraum ausgeträumt war, auch die Eisnerschen Arbeiter- und Soldatenräte ihr Spiel verloren hatten, kehrte ich, just zu derselben Zeit, als Hitler seinen Marsch zur Feldherrnhalle antrat, nach Berlin zurück, um hier das langsame, dann immer schnellere Anwachsen eines sozialistischen Nationalismus mit anzusehen, der anfangs belächelt wurde, durch alle Hindernisse und Gegenwirkungen hindurch jedoch zu einem noch heute vielen unbegreiflichen Massenaufstand emporwuchs und die Tragödie des deutschen Volkes scheinbar zu einem radikalen Abschluss brachte.

Die Kriegsereignisse des Jahres 1914 setzten mit stürmischen Erfolgen Deutschlands ein, sowohl nach Westen wie nach Osten; der Boden der verbündeten Mittelmächte blieb frei oder wurde freigekämpft. Aber die Deutschen haben es oft erfahiren müssen, im materiellen Leben ebenso wie im geistigen, dass es mit einem mächtigen Aufschwung, mit einem Auflodern unbändigen Expansionsdranges nicht getan ist. Wohl hat es Völker und Manner gegeben, die in einem einzigen Siegeszug das Begonnene auch beendet, und nachdem sie alles auf eine Karte gesetzt, ihr Spiel auch gewonnen haben. Den Deutschen ist das nur selten gelungen. Ihr Weg ist mit großen Entwürfen, mit angefangenen Unternehmungen übersät, die stecken geblieben sind und als Ruinen die Straeße deutscher Geistes- und Staatsgeschichte säumen. Wenn der erste Sturm verweht, die erste Begeisterung verraucht ist, wird wohl in immerwährenden Mahnungen das Durchalten und die Pflichttreue gefordert und gepriesen. Aber zähes geducktes Warten und Hinhalten liegt nicht im deutschen Charakter. Wo er sich zwingn muss, wird nichts Rechtes daraus, nur wo er entflammt ist, gelingt ihm Großes.
Ich habe nicht vor, den Verlauf des Krieges zu erzählen. Ich will hier nur aufzeichnen, was wir in ihm gelernt, und wie wir uns seinen Verlauf gedeutet haben.

Um was ging es eigentlich in diesem Kriege? Anfangs wurde diese Frage nur von wenigen gestellt, allmählich aber fühlten sich immer größere Teile des Volkes gedrängt, nach dem Sinn und dem Ziel des großen endlosen Mordens und Leidens zu forschen. Nur die Oberflächlichen begnügten sich mit dem Attentat auf den österreichischen Thronfolger als der ausreichenden Erklärung für die Lawine, welche durch ein paar serbische Verschwörer ausgelöst worden war. Die Ursachen mussten von dem unmittelbaren Anstoß unterschieden werden; die Ursachen mussten tiefer liegen.

Die meisten gaben der politischen Situation Europas die Schuld. Der Krieg sei einfach ein neues Kapitel in dem alten Streit der europäischen Völker um den Vorrang in ihrem Erdteil. In der Tat gingen die Auseinandersetzungen, teils im Bösen, teils im Guten, schon lange um die Entscheidung, wer der erste sein soll. Bisher waren sie nie zu einem klaren Ergebnis gekommen, oder doch nur für einen kurzen Zeitraum. In dieser lebenskräftigen, kriegerischen Völkerfamilie wollte jeder von den Brüdern der Stärkste und Würdigste, auch der Älteste sein. In der Schule war uns zwar das stürmische Eindringen des nördlichen Europa in das Weltreich der Römer am Mittelmeer einleuchtend und. überzeugend eingegangen. Über die würdige Nachfolge in der Weltherrschaft konnten aber wir so wenig wie die Besieger und Zerstörer der alten römischen Macht einig werden. Jedes europäische Volk konnte sich eine Weile einmal schmeicheln, die Führung zu haben und konnte seinen Kindern den Stolz, das auserwählte Herrenvolk zu sein, in die Seele pflanzen, aber der Traum war kurz, nur die Einbildung blieb. Einbildung macht streitsüchtig. Friedenspläne gab es zwar genug, aber befriedigt war in der Regel kaum einer von den Partnern; jeder dachte im Stillen an das nächste Mal, wo er das Versäumte nachholen und für die Niederlage Rache nehmen würde. Der Dreißigjährige Krieg lief in ein unabsehbares Durcheinander aus. Im nächsten Jahrhundert zogen Prinz Eugen, Ludwig XIV. und der Alte Fritz kräftig an der europäischen Bettdecke, die auf allen Seiten zu kurz schien, weil jeder sie für sich haben und die anderen sich nicht fügen, auch nicht nahe heranrücken wollten. Indessen trrat doch im 18. Jahrhundert eine gewisse Beruhigung ein und man konnte fast hoffen, dass der Herrschaftsanspruch für immer vertagt werden würde, bis plötzlich das revoltierende Frankreich die Waffen von neuem ergriff, und Napoleon den verdutzten Nationen die Parole zurief: ein einiges Europa! Damit war denn der alte Streit wieder da, weil keine Nation die Franzosen zu Herren haben wollte. Napoleon wurde durch eine große Koalition in die Wüste geschickt, aber als die siegreichen Brüder heimzogen, blieb die Frage, was nun aus Europa werden solle, unentschieden wie zuvor. Wiederum konnte es scheinen, als ob eine Entscheidung unnötig und das Gleichgewicht der Kräfte die vorläufig beste Lösung sei. Die Völker Europas hatten nämlich eine ausgezeichnete Ablenkung von dem häuslichen Bruderstreit gefunden; sie waren in die Welt gezogen und hatten draußen recht ansehnliche Eroberungen gemacht. Bloß die germanische Mitte Europas war daheim geblieben, weil es da noch allerhand nähere Auseinandersetzungen durchzufechten gab. Jedoch als diese einigermaßen bereinigt waren, und die Deutschen sich nun auch auf den Weg in die Ferne machen wollten, mussten sie gewahr werden, dass die Welt im wesentlichen bereits verteilt sei. Es blieb ihnen nur zweierlei übrig: entweder sich zu bescheiden und unter Verzicht auf nationalen Ehrgeiz in die Reihe der kleinen Völker zu treten, die sich durch Geist und Geld Respekt zu verschaffen wissen wie Skandinavien und die Schweiz, oder den Traum des einigen Europas wahrzumachen, also in dem Hause Herr zu werden, in welchem die anderen europäischen Brüder nur mit einem Fuße, sie aber mit beiden ganzen Füßen stehen.

Als der Krieg 1914 begann, zweifelte kein einziger unter den Gegnern Deutschlands und Österreichs, ja kaum einer unter den Neutralen daran, dass Deutschland die Absicht habe, Europa, wenn nicht gar die ganze Welt zu unterjochen. Schon die Kaiserkrönung 187l hatte unbehagliche Erinnerungen an den korsischen Empereur geweckt, doch konnte man dem alten Wilhelm und seinem unheimlich knurrenden, aber vorsichtigen Reichswächter Bismarck nicht recht beikommen. Als aber der Enkel in auffälligen Reden und herausfordernden Rüstungen sich hervortat, war es jedermann klar, um was hier gespielt werden sollte. Nur Wilhelm II. selber hatte keine Ahnung, was er angerichtet hatte; nur Deutschland selber dachte nicht im entferntesten daran, was in diesem Krieg zum endlichen Austrag drängte. Am wenigsten in Süddeutschland. und in Österreich zog irgend einer von den Kriegern ins Feld, um Europa zu beherrschen. Auch in Preußen hatte kaum ein Dutzend Unverantwortlicher und Abseitiger so weitgehende Wünsche und Ambitionen. Nein, in Österreich wollte man nichts weiter als Serbien strafen und Russland wegen seines Zugriffs auf den Balkan auf die Finger klopfen. Auch Bulgarien und die Türkei dachten nur an Abwehr östlicher Ansprüche. Und in Deutschland wollte man bloß dem südlichen Bundesgenossen zu Hilfe kommen und sich damit auch der Umklammerung, der „Einkreisung“ erwehren, indem man sowohl Elsass-Lothringen festhielt, das Frankreich sich zurückholen wollte, als die junge Kriegsflotte verteidigte, welche den Zorn der gewaltigen englischen Armada erregte.

Erst dann, als die Deutschen sahen, dass man es auf ihre Demütigung abgesehen habe, verbreitete sich mehr und mehr die Erkenntnis, dass der bloße Verteidigungswille nicht ausreichte, und dass ein positives begeisterndes Kriegsziel unentbehrlich sei. Worin hätte dieses Kriegsziel bestehen können, wenn nicht in dem alten Wunsche, dass das feindselige Gegeneinander und Durcheinander der europäischen Völker durch eine vernünftige und dauernde Ordnung beseitigt werden möge? Diese Ordnung aber müsse natürlich von Deutschland geschaffen und gehütet werden, erstens weil es an Volkszahl die anderen übertreffe (abgesehen von Russland, das man nur halb zu Europa rechnete), zweitens weil es in der Mitte liege, drittens weil es seine Hauptinteressen nicht wie die anderen in Übersee habe.

Schlussbemerkung (KH)

Der volle Text des Werkes umfasst ca. 190 Seiten.