Band I: Vor der großen Flut. Erlebtes aus den Jahren 1890 bis 1914

Vorrede

Wenige Jahre nach dem II. Weltkrieg hat der Verfasser August Horneffer sein autobiographisches Werk vollendet, das er „Rechenschaft. Kulturbericht über sechs Jahrzehnte“ nannte. Der hier vorgelegte 1. Band, der den Zeitraum 1890 bis 1914 behandelt, trägt den Titel „Vor der großen Flut“. Der 2. Band umfasst die Zeit nach dem I. Weltkrieg. Dessen hier benutzter Titel stammt vom Herausgeber.
Das Werk konnte der Autor nicht mehr zum Druck befördern. In seinem Nachlass fand sich eine von ihm selbst durchgesehene maschinenschriftliche Fassung, die jetzt vom Herausgeber digitalisiert wurde. Von letzterem stammen auch die beigefügten Fußnoten. Die Schreibweise wurde der gemäßigten neuen Rechtschreibung angepasst, die des Verfassers in den Fußnoten korrigiert, weitere Eingriffe sind nicht erfolgt. Gliederung wie Überschriften stammen vom Verfasser.
Zur Biographie des Verfassers sei auch auf sein Buch „Aus meinem Freimaurerleben. Erfahrungen und Winke“, Hamburg 1957, verwiesen, das er gegen Ende seines Lebens fertigstellen konnte, dessen Druck er aber nicht mehr erlebte. Eine mit reichen bibliographischen Angaben versehene Biographie enthält der Aufsatz von Thomas Mittmann.

Klaus Horneffer

Vorwort zum Gesamtwerk (August Horneffer)

Die sechzig Jahre, über die dieses Buch einen Kulturbericht bringt, waren für unser deutsches Volk eine Zeit des Unheils. Wohl gab es glänzende Lichter in dem dunklen Bilde; aber im ganzen muss doch jeder, der den Zustand unseres Vaterlandes im Jahre 1890 mit dem Zustand im Jahre 1949 vergleicht, eine Absturzbewegung feststellen. Die erhoffte Ernte ist verhagelt. Deutschland gleicht einem gestrandeten und geborstenen Schiff.
Wer gescheitert ist, fragt nach den Ursachen. So sind denn auch im Verlaufe dieser Epoche viele Versuche ans Licht getreten, die deutschen Misserfolge zu erklären. Wo steckte der Fehler? fragte man. Auch mein Bericht gehört in die Reihe der Rechenschafts-Ablegungen; jedoch unterscheidet er sich erheblich von den meisten derartigen Bemühungen. In der Regel nämlich glaubte und glaubt man, bestimmte Personen oder Parteien für den verhängnisvollen Gang der Dinge verantwortlich machen zu können. Man sucht Schuldige und will sich selber nach Möglichkeit reinwaschen. Nach dem ersten Weltkriege schwoll die Zahl solcher Anklagen gewaltig an. Nach dem zweiten war es noch ärger: über das ganze Lande hin wurden Gerichtsstühle und Spruchkammern errichtet, welche unser Volk in eine ganze Skala von Schuld- und Unschuldfächern einzuordnen unternahmen.

Mein Erlebnis-Buch will etwas ganz anderes. Zwar schildert es die kulturellen Bewegungen der letzten sechs Jahrzehnte im Rahmen einer Autobiographie;.aber ich habe weder die Absicht, mich zu entschuldigen, noch andere zu beschuldigen. Die Kultur selber, nicht die Person des Verfassers ist die Hauptperson dieser Schilderung. Mein eigenes kleines Leben wird nur als ein Beispiel zur Verdeutlichung herangezogen. Man sieht mich im ersten Teile im Scheinwerferlicht Friedrich Nietzsches, im zweiten Teile weit hinten, auf der Bühne unter den früher kaum beachteten, dann von dem Regisseur Adolf Hitler auf einen falschen Platz verwiesenen Freimaurern stehen. Nur als Statist also komme ich in Betracht. Außerdem als ein aufmerksamer Beobachter, der den Sinn des Geschehens zu erfassen bestrebt ist. Unparteiisch zu sein, wird mir vermutlich ebenso wenig gelingen wie allen anderen Chronisten; jedoch aufrichtig zu sein, kann ich mit gutem Gewissen versprechen. Die autobiographische Form, die notwendigerweise Lückenhaftigkeit und Einseitigkeit mit sich bringt, hat doch den Vorzug, dass nur solche Dinge geschildert werden, die der Verfasser wirklich erlebt hat, für die er also die Verantwortung übernehmen kann.

Wenn ich den Lesern im voraus verraten darf, unter welcher Flagge ich meine Lebensfahrt durch die unruhigen Wellen meiner Epoche angetreten und durchgeführt habe, so kann ich das mit dem einen Stichwort Humanitas tun. So viel oder so wenig dieses Wort sagen mag, auf alle Fälle gibt es der inneren Gewissheit Ausdruck, dass nicht Willkür den Verlauf der Dinge bestimmt, sondern dass alles so, wie es gekommen ist, hat kommen müssen, mehr noch, dass wir Alten, die wir im geretteten Kahn in den Hafen eingelaufen sind, Ursache haben, liebend und segnend nach dem wilden Ozean mit allem, was er verschlungen hat, zurückzuschauen.

Vorwort zu Band I

Die Zahl derer, die aus eigener Erfahrung von dem deutschen Kulturleben vor 1914 erzählen können, nimmt ab. Jeder Nachdenkende aber muss die Frage stellen, ob es damals nicht Zeichen und Zeichendeuter gegeben hat, welche die große Flut voraus kündeten, die im Jahre 1914 über Europa und schließlich über die ganze Welt herein brach und sich bis zum heutigen Tage noch nicht wieder verlaufen hat. Oder lebte etwa das kulturelle Deutschland, also ob niemals eine andere Zeit kommen würde?
Wer von den Alten noch am Leben ist, muss sich daher zur Berichterstattung aufgerufen fühlen. Wenn man aber erzählen will, was sich in der Jugendzeit ereignet hat, tut man gut, autobiographisch zu verfahren, also die Menschen und Dinge so zu schildern, wie man sie mit eigenen Augen gesehen hat. Selbst wenn es dabei Lücken und Gedächtnisfehler gibt, wird die Darstellung immer noch wahrer und vollständiger sein, als wenn man Berichte bringt, für die man nicht voll einstehen kann.
Auch mein Kulturbericht hat die Form einer Autobiographie. Ich bin der Meinung, dass der Leser das, was ich ihm erzählen will, nur dann gern und mit Aufmerksamkeit anhören wird, wenn er an dem Erzähler selbst Anteil nimmt und sich ein Bild von dessen Herkunft und Entwicklung machen kann. Es kommt viel darauf an, wer es ist, der Auskunft gibt über Nietzsche und seinen Kreis, über die Dichter um Gerhart Hauptmann, über Gelehrtenköpfe, religiöse Reformbestrebungen und andere maßgebende Erscheinungen jener Epoche. Zwar wird mancher Leser mit meines Bruders Ernst Horneffer und mit meinen eigenen Büchern und Vorträgen Bekanntschaft gemacht haben. Aber in diesen Blättern bittet nicht der Verfasser philosophischer und freimaurerischer Schriften, nicht der Übersetzer antiker Autoren und Nietzsche-Herausgeber um Gehör, sondern ein Beobachter, der ganz einfach an das jüngere Geschlecht weitergeben will, was ihm vor 1914 an denkwürdigen Personen, Schicksalen und Vorgängen über den Weg gelaufen ist. Alles Persönliche, was ich mitteile, soll nur Farbe ins Bild bringen, soll Typisches lebendiger und sinnfälliger machen. Nicht als Person komme ich in diesem Buche in Betracht, sondern als einer von jenen Suchenden und Irrenden, die im jugendlichen Vollgefühle und zugleich im Vorgefühl eines kommenden Unheils sich von der deutenden Betrachtung zum helfenden Eingreifer fortreißen ließen.

August Horneffer, Berlin, im Januar 1947

Inhalt Band I

Bei Friedrich Nietzsche in Weimar (Auszug)

Im Oktober des Jahres 1899 verließ ich Berlin und traf auf dem kleinen, alten Weimarer Bahnhof in der kleinen alten windreichen Residenz ein. Gleich am nächsten Tage stieg ich mit meinem Bruder den damals noch fast unbebauten Hügel hinauf zu dem damals noch nicht von H. van de Velde vergrößertem Landhaus, das die ungleichen Geschwister samt dem Schatz der von Nietzsche hinterlassenen Handschriften und Bücher beherbergte. Man steht auf derselben Höhe, zu der sich weiter südostwärts der alte Weimarer Friedhof mit der Fürstengruft hinauf zieht. So schaut man über die Stadt hinweg zu der sanften Wölbung des Ettersberges mit dem Bismarckturm hinüber. Das altmodische Haus hatte noch kaum einen Nachbarn; nur eine alte vergessene Windmühle, die schon zwei Flügel verloren hatte, ragte unweit in das anmutige offene Land hinaus, als ein Symbol für den großen kranken Mann. Dieses Haus hatte Frau Elisabeth Förster gekauft, hatte nicht ohne Kampf mit der Mutter, der Frau Pastor Nietzsche, den kranken Bruder Friedrich Nietzsche aus Naumburg zu sich herübergeholt und ein Nietzsche-Archiv begründet, dem sie sich fortan als Leiterin sowie dem Bruder als Pflegerin zu widmen beschlossen hatte.

Man wird mit Recht erwarten, dass ich ein Charakterbild dieser Frau entwerfe, mit der ich mehrere Jahre fast täglich zusammen gekommen bin. Von ihr hing, nachdem die Mutter ausgeschaltet war, das Geschick der geistigen Hinterlassenschaft ihres Bruders, eines der auffallendsten Männer seines Zeitalters schließlich ab. Auch gehörte sie wahrhaftig nicht zu den Frauen, über die sich wenig oder gar nichts sagen lässt. Obwohl sie sich neben dem Großen, der ihr Bru­der war, erschreckend klein ausnahm, hatte sie doch gewisse Familienzüge mit ihrem Bruder gemein. Und wer würde, wenn er als Vierundzwanzigjähriger, mit ungeheurem Respekt vor dem Schöpfer des Zarathustra im Herzen, zu der einzigen Schwester unter das Dach des flügellahmen Genius gerufen wird, nicht mit höchster Achtsamkeit das Wesen dieser Frau in sich aufnehmen und alle die Verehrung und Dankbarkeit, die er dem Bruder nicht mehr kund zu geben in der Lage ist, auf die aus dem gleichen Elternpaar entsprossene Gespielin und Gefährtin übertragen!

Es sind viele Herausgeber im Nietzsche-Archiv tätig gewesen. Die Schwester wechselte ihre Mitarbeiter oft, allzu oft. Auch sonst gab es in ihrem Verkehr manche schnelle Veränderung. Die Zahl derer, mit denen sie Streit gehabt hatte, war nicht gering. Viele werden von diesen Streitigkeiten anderen erzählt haben, und, wie ich weiß, haben sich auch einige mit der Absicht getragen, ihre Erlebnisse mit ihr drucken zu lassen. Mein Bruder hat diese Absicht in einer inzwischen vergessenen Broschüre, bei Eugen Diederichs (Nietzsches letztes Schaffen, Jena 1907) erschienen, auch ausgeführt. Ich selber habe meine geplante ergänzende psychologische Studie über Liesbeth Nietzsche nicht ausgeführt, was mir heute ganz lieb ist, denn ich würde der alten Dame, die noch jahrzehntelang gelebt hat und sich der wohlverdienten Verehrung vieler jüngerer Gelehrter würdig gemacht hat, entschieden Unrecht getan haben. Indessen ist hier in diesem Buche von jener weit zurückliegenden Zeit um die Jahrhundertwende die Rede. Ich muss wahrheitsgetreu erzählen, was wir damals im Nietzsche-Archiv erlebt haben und wie wir die Leiterin des Archivs und ihr Verhältnis zu dem Werke und der Persönlichkeit ihres Bruders erlebt haben.

Eines Tages zeigte uns der Mitherausgeber Ernst Holzer zwei Schriften aus den achtziger Jahren, die er, ich weiß nicht wo, aufgetrieben hatte. Die eine war von der Schwester selber verfasst und behandelte die südamerikanische Kolonie Neu Germania, die ihr Gatte Bernhard Förster gegründet hatte. Frau Eli Förster, wie sie sich damals nannte, gab eine farbige und sonnige Schilderung des Unternehmens und betonte besonders auch ihre streng-christliche Einstellung: um Beiträge für den Bau eines Kirchleins in der Kolonie und Besoldung eines Pfarrers bat sie mit beweglichen Worten. Die andere Schrift, von einem Siedler geschrieben, dessen Namen ich nicht mehr weiß, richtete sich in heftigen Anklagen gegen das Ehepaar Förster und deren angeblich nicht eingehaltenen Versprechungen. Wie es sich in Wirklichkeit damit verhalten haben mag, kann hier ganz außer Betracht bleiben. Ich bin viel zu wenig über die Persönlichkeit des Wagnerianers, Antisemiten und Koloniegründers Förster unterrichtet, um über die Sache ein Urteil abgeben zu können. Uns geht hier nur die Tatsache an, dass Nietzsches Schwester vor Gründung das Nietzsche-Archivs schon in der Öffentlichkeit genannt worden ist, und die zweite Tatsache, dass ihr Bruder Fiedrich Nietzsche über die Hochzeit entrüstet war und mit dem Schwager und der Art und Weise, wie dieser seinen Antisemitismus bekundete, derart unzufrieden war, dass er seinem Herzen in den bekannten Aphorismen zur Judenfrage Luft gemacht hat. Es gab schwere Misshelligkeiten zwischen Bruder und Schwester. Liesbeth suchte sie später nach Möglichkeit zu vertuschen. Sie hatten zunächst ihren Grund in der Feindseligheit der Schwester und der Mutter gegen des Bruders Freundschaft mit Lou Salomé, der späteren Frau Professor Andreas gehabt. Von dieser, wie sie meinten gefährlichen Russin wollten sie ihn um jeden Preis lösen. Das gelang; er wandte sich von Lou und von dem gemeinsamen Freunde Rée ab. Jedoch trug er den Frauen ihre Einmischung nach, und als bald darauf die Schwester dem Dr. Förster die Hand reichte und damit in ein Lager überging, das seiner eigenen Ideenentwicklung stracks zuwider lief, war sein Zorn groß und seine Enttäuschung schmerzlich. Nietzsche wollte auch in der Judenfrage seinen eigenen Weg gehen. Der Weg, den in der Umgebung Richard Wagners einige jüngere Leute für richtig hielten, ärgerte ihn. Als einer von diesen gar sein Schwager wurde, brach er los und gab in Büchern und Briefen maßlose, wenn auch geistreiche Urteile über Juden und Antisemiten von sich.

Sein Groll verflog bald wieder. Es wäre ebenso unrichtig, eine dauernde Abneigung der Geschwister gegeneinander zu behaupten, wie es unrichtig ist, wenn die Schwester sich den Anschein gibt, als ob sie den schweren einsamen Weg des Bruders dauernd begleitet und ihm helfend zur Seite gestanden hätte. Nein, es gab Entfremdungen, wie es auch gar nicht anders sein konnte, da die beiden Frauen naturgemäß sehr betrübt waren über die vorzeitig abgebrochene Universitätslaufbahn des ewig kranken, halbblinden Bruders und gewiss ebenso betrübt über die „schreckliche“ antiwagnerische und antichristliche Richtung, die er nach jenem ersten Bayreuther Sommer in seinen Büchern eingeschlagen hatte. Trotzdem sorgten sie nach Kräften für sein leibliches Wohl, luden ihn nach Naumburg ein und hielten mit so warmer Liebe das Familienband aufrecht, dass man sagen kann: Nietzsche ist innerlich niemals von seiner Familie losgekommen. Auch der Streit in den letzten Jahren seines Schaffens war nur darum so heftig, weil die gegenseitige Zuneigung und Achtung so groß war. Die Schwester hatte gar keine Veranlassung gehabt, über diesen Streit einen so dichten Schleier zu breiten und das geschwisterliche Verhältnis als ein stets ungetrübtes erscheinen zu lassen. Die beiden waren nun einmal keine Turteltauben, haben sich dessen auch nicht zu schämen.

In Südamerika erhielt Frau Förster die Nachricht von ihres Bruders Erkrankung, Januar 1889, und reiste nach Europa. Hier erreichte sie die Nachricht von ihres Gatten drüben eingetretenen Tod. Sie fuhr noch einmal zurück nach Paraguay, um zu ordnen und abzuschließen. Dann kehrte sie heim und ergriff, da inzwischen Nietzsches Stern aufzugehen begann, die neue Lebensaufgabe, der Anerkennung ihres Bruders und der Ausbreitung seine Werkes zu leben.

Nietzsches Mutter habe ich nicht mehr kennen gelernt. Peter Gast liebte sie sehr und schildert sie als eine resolute Pastorin, die das Herz auf dem rechten Fleck hatte Die Tochter sprach auffallend wenig von ihr. Wie gesagt, hatte sie der Mutter den Sohn samt dessen Handschriften und Bibliothek entführt, hatte auch Peter Gast verabschiedet, der zunächst mit der Neuherausgabe vergriffener Schriften begonnen hatte. Sie holte sich Rat bei Nietzsches gelehrten Freunden, z.B. bei Erwin Rohde in Tübingen und bei Deussen in Kiel, über die Gründung des beabsichtigten Archivs. Diesen war es ähnlich ergangen wie der Schwester: die Richtung des späteren Nietzsche war ihnen ein Greuel, sie hielten ihn für verloren. Da nun aber kurz nach der Erkrankung das Interesse für Nietzsche sich belebte, die Bücher gekauft wurden und die Künstler und Literaten für ihn zu schwärmen anfingen, revidierten sie ihr Urteil. Freilich hielt der schroffe Rohde, der ein grundsätzlicher Pessimist und ein großer Philologe war, ein Nietzsche-Archiv für ein „törichtes“ Unternehmen, zumal unter weiblicher Leitung. Das sagte er ihr freilich nicht, aber anderen, und hielt sich bei Ausführung ihres Planes ebenso zurück wie die anderen alten Freunde.

Die Schwester hatte in dem jungen Dr. Kögel die, wie sie meinte, geeignete Persönlichkeit gefunden. Dieser holte Rudolf Steiner und Eduard v.d. Hellen zu Hilfe, die damals im Goethe-Archiv arbeiteten. Zunächst war alles Freude und Einigkeit. Die Bearbeitung der Manuskripte wurde begonnen, ein paar Nachlassbände erschienen. Bald aber gab es Krach mit der Leiterin. Kögel wurde im Sturm entlassen, die andern Herren zogen sich zurück, die Schwester versuchte es mit andern Herausgebern, bis sie meinen Bruder berief, der ihr durch seine Vorträge bekannt geworden war. Dieser fand Flüchtigkeiten in Kögels Arbeiten, glaubte in der Freude seines Herzens über den Dienst an dem großen Verehrten, dass Frau Förster eine schutzbedürftigte Verfolgte und ihres Bruders Nachlass Gefahr sei, und veröffentlichte ein aufregende Schrift über „Nietzsches Lehre von der ewigen Wiederkunft und deren bisherige Veröffentlichung.“

Auf die philologische Frage, wie die hinterlassenen Entwürfe am zweckmäßigsten herauszugeben sind, komme ich später noch zurück. Darüber gewannen wir erst allmählich während unserer Arbeit im Archiv Klarheit. Hier sei nur angedeutet, dass es in jener Schrift meines Bruders nicht nur auf philologische Polemik ankam, sondern auf einen erheblichen Gegensatz in der Auffassung von Nietzsches Mission. Kögel war ein feiner Geist; er und mit ihm die meisten, die damals Nietzsche lasen, fassten ihn als einen funkelnden und sprühenden Aphoristiker auf, als ein unerhörtes Phänomen von Gedankenreichtum und Gedankenkühnheit: den Künstlern eine Freude, den Philistern ein Ärgernis! Das alles ist Nietzsche auch; aber nach unserer Meinung ist Nietzsche viel mehr; er ist ein Prophet, eine religiöse Krisenerscheinung höchsten Ranges. So pflegte ihn Ernst in seinen Vorträgen, denen er fast ausschließlich den Zarathustra zugrunde legte, darzustellen. Kögel und seine ästhetischen Freunde fühlten sich durch diese Auffassung „angeekelt“. Frau Förster hatte wohl keine ausgesprochene eigene Meinung über Wesen und Ziel des brüderlichen.Strebens; ihr genügte es, dass sein Ruhm zunahm und dass sein Ruhm auch ihr Ruhm war. Sie war vor allem glücklich, dass der verhasste Kögel eins auf den Pelz bekam, stimmte daher allem, was wir aufstellten und in Angriff nahmen, mit Begeisterung zu, bis nach einigen Jahren auch diese Einigkeit sich trübte und mein Bruder ihr eines Tages derart ihre Einmischung in wissenschaftliche Fragen vorhielt, dass der Riss nicht mehr geheilt werden konnte.

Das Nietzsche-Archiv litt daran, dass es zwei verschiedene Absichten zugleich erfüllen wollte. Repräsentationsstätte und wissenschaftliches Institut sollte es sein. Vielleicht hätten sich diese beiden Aufgaben ganz gut miteinander vertragen, wenn man nur erst einig gewesen wäre, wie man einen Friedrich Nietzsche würdig repräsentieren und wie man sein Werk mit Hilfe der Wissenschaft gut und richtig auf den Leuchter stellen könne. Der Repräsentation glaubte die Schwester dadurch Genüge zu tun, dass sie stets in Schwarz ging, oder vielmehr fuhr, denn sie hielt sich eine Equipage und begab sich nur fahrend in die Stadt. Vor den Geschäften sprang der Diener ab, öffnete ihr die Ladentür und rief in den Laden hinein: „Frau Förster-Nietzsche!“ Das klang den erstaunten Kunden, als ob er sagen wolle: „Frau Fürstin Nietzsche!“ So flüsterten wenigstens boshafte Hofkreise uns zu. Der weimarische Adel nämlich fand sie gar nicht fürstlich, nannte sie vielmehr das Förster-Lieschen und traf es damit nicht ganz so schlecht; denn wenn man die kleine nette Frau, die Lorgnette immer in der Hand, daher trippeln sah und der Thüringische Dialekt sich schon beim ersten. Wort verriet, so kam einem eher eine nach höherem strebende Försterin, als eine Fürstin in den Sinn. Am meisten ähnelte sie einer Landpfarrersfrau, was gewiss nichts Schlechtes ist, zumal dann nicht, wenn sich so viel weiblicher Reiz, so viel tüchtige Lebensfrische mit diesem Typus verbindet, wie es bei ihr der Fall war. Die Teufelchen, die in ihr spukten, störten leider bei näherer Bekanntschaft den lieben prächtigen Eindruck, den sie auf jeden machte; jedoch konnte man auch diesem Teufelchen nicht mehr böse sein, wenn man eines Tages entdeckte, dass ihr Fritz, so nannte sie gern ihren Bruder, seine berühmten oder berüchtigten Invektiven gegen das weibliche Geschlecht zum großen Teil im Hinblick auf diese schwesterlichen Exzesse konzipiert hatte. Es ist zwar eine große Seltenheit, dass ein Psychologe seine Erfahrung über die Frauen in der eigenen Familie sammelt, anstatt bei weiblichen Wesen, die ihm mit dem Reiz der Fremdheit und mit der erregenden Lust, sie zu gewinnen, vor das Angesicht kommen; aber mit Nietzsches erotischer Begabung stand es ziemlich schwach. Was hatte er denn für Beziehungen zu Frauen! Eine stille und dauernde Verehrung für Cosima Wagner hat ihn anscheinend durch das ganze Leben begleitet. Dazu kam der erwähnte kurze Rausch, in den ihn Lou Salomé versetzte; aber es fragt sich, ob diese beiden Erlebnisse bis in die Tiefe seiner Existenz gedrungen sind. Mir will scheinen, als ob die Cosima-Ariadne seiner Träume und ebenso die heftig geliebte und gehasste jüngere Lou ihre zeitweilig große Macht über sein Fühlen dadurch gewonnen haben, dass er in ihnen gewisse Wesenszüge seiner Schwester und seines brüderlichen Verhältnisses zu ihr wieder erkannte. Die „Liesbeth“ war ihm nicht nur Schwester gewesen, auch Freundin, Schülerin, sorgende Mutter und was noch alles. Innerlich blieb er an sie gebunden. Jede Frau maß er an ihr. Im Grunde hat sich Nietzsche die Frauen stets fern gehalten und im Verkehr mit ihnen den ritterlichen Kavalier, keineswegs einen peitschenschwingenden Zähmer weiblicher Widerspenstigkeit herausgekehrt. Die betonte Mannes- und Herrengeste blieb durchaus Theorie bei Nietzsche; in der Praxis hat er nur gegen seine Schwester gelegentlich die vielberufene Peitsche (nur bildlich und mit Worten) geführt, hat bei seiner Schwester die „Tigerklaue unter dem Handschuh“, überhaupt den aufbegehrenden eitlen furchtsamen Sinn, der gebändigt werden muss und will und all die anderen „Rätsel“ der Weibesnatur gefunden, die von jeher den Nietzsche-Lesern aufgefallen und vielen, besonders weiblichen, ein Dorn im Auge gewesen sind.

Man verstehe mich recht: ein Geist wie Nietzsche verallgemeinert nicht einfach die Eigenschaften einer einzelnen Frau zu typischen Wesenszügen des ganzen Geschlechts. Es handelt sich nur um den Anstoß, den der Psychologe ebenso wie der Künstler aus einem ganz bestimmten Erlebnis gewinnt. Dieses Erlebnis in ihm wächst und verbreitet sich dann, so dass es zur typischen Wahrheit wird. Nietzsches Äußerungen über die Frauen sind ähnlich wie seine gelegentlichen Äußerungen über den Arbeiterstand, nur dann zu verstehen, wenn man seine tiefe Sorge um die drohende Entartung berücksichtigt. Das Industrieproletariat und dessen Ansprüche empfand er als Entartung; die selbständig werdende Bücher schreibende Frau ebenfalls. Da wollte er durch seinen scharfen Spott und die wegwerfende Übertreibung Halt gebieten und nachdenklich machen. So redete er denn von der orientalischen Weisheit, die die Frau als erschließbares Eigentum betrachtet, und so redete er auch von den Arbeitern: Wenn man Sklaven will, soll man sie nicht zu Herren erziehen! Solche Sätze sind ärgerlich; aber das eben ist die Absicht solcher Sätze: er will damit ärgern, reizen, zur Überprüfung der als selbstverständlich hingenommenen „modernen Ideen“ antreiben.

Jedoch wir kehren zu der Schwester und ihrem Archiv zurück. Mit dem wissenschaftlichen Charakter dieses Archivs stand es, als wir eintraten, gar nicht gut. Es sollte möglichst bald die Gesamtausgabe fertig vorliegen. An den nötigen Vorarbeiten, vor allem daran, dass zunächst einmal sämtliche vorhandenen Manuskripte gelesen, abgeschrieben, durchgearbeitet, mit den Briefen und sonstigen Erinnerungsdokumenten konfrontiert wurden mussten, ehe eine einzige Zeile des Nachlasses veröffentlicht werden konnte, wurde nicht gedacht. Die Briefe enthielt die Leiterin uns überhaupt vor, ebenso die letzte Schrift Nietzsches, seine verzerrt großartige Selbstbiographie Ecce homo. Mit dem Lesen der hinterlassenen Handschriften hatte Kögel zwar begonnen, aber vieles lag noch unbenutzt und unentziffert da. Diese Aufgabe war daher die nächste, an die wir herangingen.
Ich erinnere mich noch deutlich an die Ehrfurcht, mit der wir zum ersten Male die Hefte und Einzelblätter in die Hand nahmen, die Nietzsche zur ersten Niederschrift seiner unablässig auf ihn einströmenden Einfälle benutzt hat. Die meisten dieser Hefte sind einfache Notizbücher, teils in Quart-, teils in Oktavformat. Sie waren durch den Basler Freund, den wunderlich bedeutenden Theologen Franz Overbeck gerettet worden, als er den erkrankten Nietzsche aus Turin zurück brachte und in die Baseler Anstalt einlieferte. Andere hatte die Schwester mit Geschick und Glück zusammengebracht. Einiges, aber wohl kaum wesentliches war verloren gegangen. Nietzsche selber hatte gelegentlich Schriften vernichten lassen.

Schwierigkeiten bot Nietzsches Handschrift hauptsächlich nur bei den Niederschriften der letzten Jahre. Früher hat er zierlich und sauber geschrieben, hat sich auch in der Regel vernünftiger Sätze und gewählter Worte bedient, wenn er zur Aufzeichnung schritt. Im Rausch hingeworfene fragmentarische Ausrufe ohne stilistische Formung finden sich fast gar nicht. Ich habe in einem Schriftchen, das 1907 bei Eugen Diederichs erschienen ist (Nietzsche als Moralist und Schriftsteller) den Grund für diese sorgfältige Gestaltung der ersten Niederschrift darin gesucht, dass Nietzsche ähnlich wie ein Künstler von dem fruchtbaren Augenblick, in welchem ihm ein Gedanke aufleuchtete, derart hingenommen wurde, dass er ihn sofort in eine vollkommene Form zu bringen sich gedrungen fühlte. Seine Produktivität war nicht ein Sammeln und Aufschichten von Material, das erst im Zusammenhang eines Ganzen Bedeutung gewinnt. Vielmehr lag die Bedeutung in den einzelnen Gedanken selber und in der schöpferischen Stunde, die ihm diesen Gedanken bescherte. Jedoch würde man irren, wenn man Nietzsche in dem Sinne einen Aphoristiker nennt, dass sein Schaffen ohne inneren Zusammenhang gewesen wäre. Nein, die Blitze, die aus seinem Geiste hervorsprangen, erleuchteten den ganzen Horizont. Nietzsches Aphorismen sind aus dem Ganzen seines Wesens geboren und geben stets ein Ganzes wieder. Freilich ist es Nietzsche nicht gelungen, dieses visionär geschaute Ganze nun auch zu einem in sich geschlossenen System zusammenzufügen. Philosophisch sind das alles nur Fragmente, nur Felsstücke, nur Schutthalden, was er produziert hat. Jedoch im künstlerischen Sinne steht jeder Aphorismus als ein fertiges Werk da und zeugt von schöpferischer Erleuchtung, ähnlich wie ein Gedicht oder ein musikalischer Tongang.

Wir entdeckten mitten unter den hinterlassenen Gedankenmassen bekannte Sätze und Abschnitte. Sie stehen in dem von Nietzsche selber herausgegebenen Werken. Er hat, wenn er ein Buch zusammenstellen wollte, in den beständig sich neu füllenden Topf hinein gegriffen und diejenigen Aphorismen herausgelöst, die ihm reif und brauchbar erschienen. Dieses Herauslösen war keine schwere Arbeit, denn wie gesagt, stehen in den Heften meist selbständige, runde Gedanken, die untereinander nur lose, nur durch die Persönlichkeit ihres Schöpfers und durch die Lebensepoche, in der er sich eben befand, zusammenhängen. Auf einen bestimmte Gegenstand hat er sich selten beschränkt. Viele Ideenkomplexe laufen nebeneinander her. Wohl arbeitete er noch gehörig an dem herausgenommenen Aphorismus: „Wie an einer Bildsäule,“ sagt er selber; aber diese Arbeit galt nicht der Einfügung des Gedankens in ein Gedankengebäude, sondern eher umgekehrt der Abschleifung, Glättung und Deutlichmachung des bestimmten Einzeleinfalls.
Wenn wir uns daraufhin Nietzsches gedruckte Schriften von neuem vornahmen, so sahen wir, dass er die so gefeilten und geschliffenen Aphorismen. mit Einzelüberschriften versehen hatte. Auch hat er Sammelüberschriften gefunden, Schubladen gleichsam, in die er die blitzenden Juwelen hinein schüttete, oder Auslagen, Vitrinen oder wie man die Schaukästen nennen will, in denen ein Kaufmann oder ein Museum kostbare Stücke aufstellt, die ebensosehr von Reichtum und Vielseitigkeit, wie von überlegter Anordnung und Übersichtlichkeit Zeugnis geben sollen. Alle Bücher Nietzsches sind Aphorismensammlungen, mit Ausnahme der frühen Schriften (Geburt der Tragödie und Unzeitgemäße Betrachtungen). Auch der Zarathustra ist, wie man gut verfolgen kann, aus spruchartigen Einzelbemerkungen entstanden, die zum großen Teil schon zu einer Zeit konzipiert wurden, als er noch nicht daran dachte, sie einem bestimmten Weisheitslehrer in den Mund zu legen.

Man kann also sagen: Nietzsches hinterlassene Manuskripte sind Tagebücher seiner Seele, die fortlaufend sein Denken und dessen Wandlungen und Wanderungen festhalten. Eine wunderbare einzigartige Gelegenheit, das innere Leben eines eruptiven Feuergeistes Schritt für Schritt zu belauschen und nachzuleben! Wenn man sich das einmal klar gemacht hat und sich auch in die Handschrift ganz hinein gefühlt hat, so dass man sich in dem Wogen und Wallen des Funken- und Rauchgestiebes leicht zurechtfindet, dann kann man sich nur eine einzige würdige Art der Veröffentlichung dieses Nietzscheschen Nachlasses vorstellen, nämlich den vollständigen Abdruck sämtlicher Manuskripte in chronologischer Reihenfolge. Für tiefer Eingedrungene würde auch das nicht alles das geben, was uns in jahrelanger täglicher Beschäftigung aus diesen Heften entgegen quoll. Den persönlichen Reiz dieses Werdeprozesses, den unmittelbaren Anblick das Kampfes eines deutschen Ritters ohne Furcht und Tadel mit den Dämonen des Untergangs! Uns selber würde nur die photographische Wiedergabe, die Photokopie ein Genüge getan haben!

Das sind unerfüllbare Wünsche. Eine derartige Nachlassausgabe könnte nur unter Verhältnissen zustande kommen, die himmelweit von denen verschieden sind, unter denen denen wir gearbeitet haben. Es müssten nämlich in dieser Ausgabe die von Nietzsche selber zum Zwecke einer Buchveröffentlichung herausgenommenen Gedanken ebenfalls wiederum erscheinen, und zwar in ihrer ursprünglichen Form. Eine Verdoppelung also, eine Rückführung des Ausdrucks und vielfach auch des Gedankenprozesses auf einen vom Autor nicht mehr gutgeheißenen Zustand. Genug, es ergeben sich Schwierigkeiten und Unmöglichkeiten, die zu einer viel bescheideneren Methode der Herausgabe nötigen.

Und welches Aussehen würde diese bescheidenere Nachlass-Ausgabe haben müssen? Da kommt einem natürlich zunächst der Gedanke, es ebenso zu machen, wie Nietzsche selber, also von neuem in den Topf zu greifen, aus dem Nietzsche die Bestandteile seiner veröffentlichten Bücher herausgenommen hat, und weitere Aphorismen hervor zu suchen. Aber welche? Die stilistisch reifsten? Die gedanklich bedeutendsten? Die den veröffentlichen Büchern nächststehenden oder umgekehrt die möglichst andersartigen? Soviel Fragen, soviel Versuchungen für den Herausgeber! Die Hauptschwierigkeit aber ist noch eine andere, nämlich wie man die ausgewählten Aphorismen nun ordnen, auf welchen Faden man sie aufreihen soll? Nietzsche hat sich eine Menge von Überschriften und Buchtiteln aufgezeichnet; da könnte man genügend passendes finden. Aber darf ein Herausgeber so selbstherrlich vorgehen, darf er Bücher machen, die Nietzsche selber zu machen verschmäht hat, gleichviel aus welchen Gründen?

Solcher Art waren die Sorgen, die uns bewegten, nachdem es uns gelungen war, alles was Nietzsche zu Papier gebracht hat, zu lesen und zu verstehen, auch die kaum zu entziffernde, mit breiter, allzu williger Feder hingeworfenen Aufzeichnungen der letzten Monate und Tage. Unsere Abschriften wurden dann noch von Peter Gast verglichen und verbessert, so dass wir drei in Bezug auf diese grundlegende Vorarbeit den nach uns kommenden Herausgebern wenig zu tun übrig gelassen haben. Wie wir uns dann bei der Verwertung des einmal gehobenen Schatzes durch geholfen haben, das gehört nicht mehr in meine Erzählung hinein. Mir lag hier nur daran, den Lesern eine Vorstellung zu geben von der mühseligen und an Zweifeln reichen Arbeit, mit der wir uns einen Schacht bis in das Herz unseres Philosophen zu graben suchten. In der Tat führt es in das Herz dieses großen Mannes, wenn man zu der Erkenntnis sich durchringt, dass er mit Geistern im Kampf gelegen hat, deren er nicht Herr wurde und deren man auf dem Wege der Philosophie überhaupt nicht Herr werden kann.

Nicht so ist es, wie wir damals von entsetzten Leuten oftmals hören mussten, dass Nietzsche deshalb geisteskrank werden musste, weil das Ergebnis seines Denkens trostlos und geistesverwirrend ist. Nein, seine „Lehren“, also der Übermensch, der Wille zur Macht, Die Ewige Wiederkunft, führen eben so wenig zur Geistesverwirrung wir irgendeine andere philosophische Lehre oder irgendein religiöser Glaube. Über der platonischen Ideenlehre oder über Kants Erkenntniskritik oder über den Glauben an die Dreieinigkeit kann man ebenso gut verrückt werden, wie über Nietzsches Ansichten, wenn man nämlich die Anlage dazu hat und sich genügend tief in diese für den Verstand unfassbaren Spekulationen vertieft.

Nietzsche war völlig durchdrungen von der Unhaltbarkeit der abendländischen Kultur in der Gestalt, die sie im Laufe das 19. Jahrhunderts angenommen hatte. Der Untergang schien ihm unabwendbar. Die Ursachen der Untergangs hat er immer von neuem untersucht und viel Richtiges, aber auch manches Anfechtbare dabei zutage gefördert. Sein Wille sagte: der Untergang kann nicht endgültig, er kann nur ein Übergang und Durchgang sein, aber wohin ein Durchgang? Welches sind die Kräfte, die den Tod in neues Leben verwandeln können? Hier verführte ihn die Tiefe der Not, zugleich aber auch ein frevelhafter Vorwitz, durch das Schlüsselloch der Zukunft zu spähen und die Welt von morgen zu beschreiben, wozu noch kein Mensch imstande gewesen ist, falls er nicht das Jenseits, also das Übergehen in eine andere Daseinsform, aus dem Zeitlichen ins Ewige, zu Hilfe nimmt. Nietzsche lehnte das ab, aus Trotz, wie mir scheint. Dieser Trotz kostete ihn das Leben. Neue Tafeln wollte er aufstellen; aber das kann nicht ein trotziger Einsiedler, nicht ein verlassener, irrender Faust, auch wenn er in die höchsten Höhen flüchtet. Nietzsche hat diesen Irrtum selber gefühlt; vielleicht hätte er ihn auch noch korrigiert, wenn er älter geworden wäre. Vorher aber zerbrach das Gefäß: Nietzsche hatte sich zu viel zugemutet; er hatte nicht die Geduld oder, was dasselbe sagt: nicht die Kraft, zu warten, bis sich Freunde, Jünger, Gleichstrebende fanden, durch deren brüderliche Teilnahme die Last auf mehrere Schultern hätte verteilt werden können und eine Ablenkung vom Denken zum Handeln, vom psychologischen Zerlegen zum künstlerisch-geselligen Zusammenführen hätte herbei geführt werden können. Auch ist nach meiner Meinung das Zurückgehen auf eine andere Welt nicht zu entbehren.

Doch will ich hier zunächst einhalten und über unsere Mitarbeiter im Archiv berichten.

Schlussbemerkung (KH)

Der volle Text des Werkes umfasst ca. 160 Seiten.