Zur Einführung
Der Vater der Malerin Paula Becker-Modersohn, der Baurat Carl Woldemar
Becker, schrieb am 14.11.96 einen Brief an seine Tocher, in der er vom
Besuch des jungen Gelehrten Ernst Horneffer berichtet, dessen Bremer
Nietzsche-Vorträge im November d.J. er gehört hatte. Über die Brüder
Horneffer schrieb er: "Er (EH) hat durch Aufbieten seiner ganzen Kräfte
und Arbeiten von früh bis später seine Doktordissertation (De Hippia
Maiore qui fertur Platonis 1895) innerhalb vier Wochen beendet [...].
Seine Geschwister sind nicht weniger talentvoll. Sein Bruder August
Horneffer (1875-1955) studiert in Berlin und ist ein offener Kopf. Die
Mittel liefert der nächste Bruder (Franz Horneffer 1877-1901), ein
Gymnasiast, der für Weniges Stunden gibt und den Erlös abführt.
Aber diese merkwürdige Familie hat noch andere Originale. Die jüngste
Schwester Martha Horneffer (1880-1977) ist von den Brüdern zum
Griechischen angehalten und hat es soweit gebracht, dass sie Plato, den
schwierigsten griechischen Prosaiker, liest. Lateinisch will sie
demnächst anfangen. Einstweilen treibe sie Italienisch. Wenn die Brüder
es ermöglichen können, soll sie später studieren. Sonst wird sie in der
Sehnsucht nach Höherem in kleinlichen Verhältnissen verkümmern. Sie muss
ganz besonders begabt sein. Mit 11 Jahren las sie Wilhelm Meister, und
nicht die bunten Erlebnisse, sondern die philosophischen Abhandlungen
erregten ihre Aufmerksamkeit, z.B. die Gespräche über Hamlet, den sie
natürlich in dem Alter schon gelesen hatte. Die älteren Brüder waren für
ihre Entwicklung maßgebend. Wenn sie zusammenkamen, wurde beratschlagt,
was die jüngere Schwester treiben und lesen sollte, und diese ließ sich
leiten."
Wir verdanken die Kenntnis dieses Briefes Frau Lieselotte von Reinken†, Bremen.
"Die Brüder Horneffer entwickelten im Rahmen ihrer ausgedehnten
Vortragstätigkeit, ihrer Zeitschriftenprojekte und ihrer breiten
literarischen Produktion eine religiöse Programmatik, die ihnen in der
Fremdwahrnehmung ihrer Zeit das Profil einflussreicher religiöser Führer
und charismatischer Religionsstifter verlieh. Das führte früh dazu,
dass die Aktivitäten der „Nietzsche-Apostel“ von kirchlicher Seite mit
sensibler Aufmerksamkeit verfolgt und mit Vehemenz kritisiert wurden.
Insbesondere Ernst Horneffer erreichte über seine selbstgewählte „freie
religiöse Lehrtätigkeit in der Öffentlichkeit“ eine signifikante
Vorbild- und Vorreiterfunklion bei der Entstehung neuer
alternativreligiöser Gemeinschaften".
Quelle: Thomas Mittmann: „Gott ist tot – es lebe die Religion“.
Friedrich Nietzsches Philosophie im Kontext religiöser
Vergemeinschaftungen in Deutschland vom Kaiserreich bis zum
Nationalsozialismus S. 253-277 in: Die Gegenwart Gottes in der modernen
Gesellschaft. Transzendenz und Religiöse Vergemeinschaftung in
Deutschland. Hsg. von Michael Geyer, Lucian Hölscher. Göttingen:
Wallstein 2006.