Philosophie

Vorrede

In den letzten Jahren seines dreiundachtzigjährigen Lebens (gest. am 5. September 1954) drängte es den Verfasser in steigendem Maße zur Zusammenfassung seiner Gedanken. Jedoch hat die Vortragstätigkeit, die er bis zu seiner letzten Krankheit fortsetzte, ihn gehindert, ein System der Philosophie, wie es ihm lebhaft vor Augen stand, vollends durchzuführen. Was sich in seinem Nachlass vorfand, sind nur Fragmente. Diese Fragmente legen wir hier der Öffentlichkeit vor.
Für den ersten, im wesentlichen historisch-kritischen Teil konnte die im Sommer 1954 abgeschlossene Fassung zugrunde gelegt werden, die der Verfasser wiederholt als endgültig bezeichnet hat, mit der Einschränkung, dass ihn die Darstellung der Philosophie Heideggers noch nicht befriedige.
An den erkenntnistheoretischen Untersuchungen des zweiten Teils hat er seit dem Sommer 1953 nicht mehr weitergearbeitet.
Der dritte metaphysische Teil setzt sich aus drei verschiedenen Bearbeitungen des Verfassers zusammen. In der ersten Abteilung wird nur der eine Grundgedanke seiner Metaphysik behandelt. Um auch den zweiten Grundgedanken zur Geltung zu bringen und dadurch dem ganzen Werke einigermaßen einen Abschluss zu geben, haben wir die Darstellung des Gottesproblems einer früheren, unveröffentlicht gebliebenen Arbeit entnommen.
Wir haben nichts hinzugefügt und abgesehen von formalen Korrekturen selbstverständlich keine Veränderungen vorgenommen.
Den vierten Teil sollte die Ethik bilden. Wesentliche Abschnitte aus den dazu vorhandenen Entwürfen hat der Verfasser in dem Buche: „Angewandte Ethik“ vorweggenommen, das im Jahre 1951 im Verlag Humanitas (Bielefeld) erschienen ist.

Berlin/Bremen, 18. März 1955, Die Herausgeber: Dr. August Horneffer, Dr. Martha Horneffer

Nachtrag zur digitalen Edition

Bei der Herstellung des digitalen Fassung des Werkes wurde die Schreibweise weitgehend an die neue deutsche Rechtschreibung angeglichen. Fußnoten der Erstbearbeiter sind mit D.H., die des Zweitbearbeiters mit KH bezeichnet. Es wurden einige wenige Kürzungen vorgenommen.

Klaus Horneffer

Inhalt

Von Kant zu Fichte (Auszug)

Es bedarf nicht umständlicher Erörterung, dass die Menschheit schwere Schicksale erlitten hat. Große Umwälzungen in den äußeren Beziehungen und der inneren Verfassung der Völker sind geschehen. Jeder weiß es, jeder fühlt es.
Hier nützt kein Klagen und Anklagen. Wir müssen die Ereignisse, welche die Menschheit betroffen haben, zu verstehen suchen. Was aber heißt „verstehen“? Die Vorgänge und Zustände, deren Zeugen und Opfer wir geworden sind, aus dem Geiste, aus dem Innern des Menschen deuten und sodann sie geschichtlich verstehen, und dies besagt, sie in ihrem Werden in ihrem folgerichtigen Verlauf begreifen.
Was das erstere anbelangt, so ist man meist auf das Gegen­teil gerichtet. Man zieht äußere Begebenheiten heran, um für die Erschütterung des Lebens eine Erklärung zu finden. Vor allem weist man auf die Macht der Technik hin, die in ihrer erstaunlichen Entfal­tung ein Werk des Menschen war, das ihn zu hohem Stolz zu berechtigen schien. Nun aber droht diese ungeheure Erscheinung auf ihn selbst, den Erzeuger, zurückzufallen. Dann wieder meint man, dass durch zufällige geschichtliche Umstände der furchtbare Zusammenstoß der führenden Völker erfolgt sei, mit seinen unabsehbaren, tiefwirkenden Eingriffen in das menschliche Leben. Diese gewaltigen Ereignisse sollen es wohl begreiflich machen, dass eine schwere Zerrüttung und Verzweiflung die Menschheit überkommen hat, woraus die Erschütterung und wohl gar die Auflösung aller Lebenswerte zu erklären sei.
Alles Menschliche aber keimt aus dem Innern, aus dem, was in der Seele des Menschen vorgeht. Unverrückt bleibt das große Wort Schillers in Geltung: „In deiner Brust sind deines Schicksals Sterne.“ Ich behaupte: wenn alle die schlimmen Ereignisse der letzten Jahrzehnte sich nicht zugetragen hätten, wenn dem europäischen Leben diese umwühlenden und grauenerregenden Schicksale erspart geblieben wären; der Nihilismus, der Zweifel an allen Idealen, an allem, was dem Menschenleben Wert und Würde verliehen hatte, wäre dennoch über die Menschheit gekommen. Denn diese Stimmungen und Gesinnungen waren schon geraume Zeit vor jenen unheilvollen Ereignissen in ahnungsvollen, vorschauenden Geistern erwacht und in eindrucksvollen Äußerungen auch bekundet worden. Nur blieb deren Aufnahme und Würdigung auf engere Kreise beschränkt, während durch die gewaltigen, weithin sichtbaren Vorgänge des geschichtlichen Lebens nunmehr alle, auch die Lauen und Oberflächlichen, vor den Ernst des Lebens gerückt worden sind. Entstanden aber sind, wie ich darzutun hoffe, diese Gefahren, die Bedrohung durch den Nihilismus, aus der reinen, von allen äußeren Umständen unberührten Bewegung des Geistes. Die Ideen sind es, welche die Geschicke des Menschen­lebens bestimmen, was man heute nicht mehr wahrhaben will. Erzeuger aber und Sachwalter der Ideen ist die Philoso­phie, woraus sich ergibt, dass in den Tiefen der Weltanschauung, dem Bestätigungsfelde der Philosophie die letzte Ursache aller Leiden der Menschheit und auch aller Wiederherstellung und Erneuerung des Lebens zu suchen ist.
Die Behauptung wird befremden. Denn seit geraumer Zeit wird die Vernunft und ihr Erzeugnis, die Erkenntnis, verdächtigt. Die Warnung vor dem „Rationalismus“ ­– und Rationalismus bedeutet Vertrauen zur menschlichen Vernunft – die Warnung vor dem gefähr­lichen Rationalismus will nicht verstummn. Ständig wird diese Warnung wiederholt. Es ist ein wunderlicher Vorgang, der sich vor unseren Augen abspielt. Die Menschheit befindet sich in beklemmenden Notständen. Und in einer solchen Zeit ertönt der allgemeine Ruf: nur nicht die Vernunft zu Rate ziehen! Dann sei alles verloren!
Ich kann in dieser Einleitung keine Abhandlung über die menschlichen Seelenkräfte vorausschicken, was als die Grundkraft des menschlichen Inneren anzusehen ist und in welchem Verhältnis die verschiedenen Geisteskräfte zu einander stehen. Bei der Be­sprechung von Schopenhauer und Nietzsche und bei der Darlegung meiner eigenen Gedanken wird sich hierzu später Gelegenheit finden. Nur in aller Kürze, zur Rechtfertigung meines Unternehmens, vom Geiste her die Not unserer Zeit zu deuten, will ich mit wenigen Worten das Wichtigste sagen. Ehemals wurden die Schöpfungen des bewussten Geistes, Vernunft und Wissenschaft, als die menschlichen Höchstleistungen gewertet. Die Fähigkeit des Denkens galt als das auszeichnende Vorrecht des Menschen vor den übrigen Geschöpfen. Es blieb unserer Zeit vorbehalten, die bewusste Geistigkeit zu ent­thronen. Der berühmte Psychologe Klages gab seinem Hauptwerk den Namen: „Der Geist als Widersacher der Seele.“ Was ehemals als der große Siegeszug der menschlichen Geschichte gepriesen wurde, eben das Erwachen und Erstarken des bewussten Geistes, wird hier in eine Verfallserscheinung, in einen beklagenswerten Niedergang um­gedeutet. Demgegenüber behaupte ich, dass dem Gedanken nach wie vor die Herrschaft im Menschenleben gebührt. Ich begreife nicht, wie man gerade gegenwärtig dem Rationalismus den Kampf ansagen kann. Denn von einem Vorwalten des Rationalismus, von einer Herrschaft der bewussten Geistigkeit kann ich in unserem Leben und im Leben der letzten Menschenalter keine Spur entdecken. Im Gegenteil, wer das Leben dieser Zeit mit Aufmerksamkeit beobachtet hat, muss bekennen, dass überall, im Verhalten der Einzelnen wie namentlich auch im Verhalten der größeren Gruppen, der Völker, der vernunftlose Trieb, die blinde Leidenschaft geherrscht haben und herrschen. Mögen Gefühl und Wille die Grundkräfte der menschlichen Seele sein, was ich nicht bestreite. Ich bin Anhänger der Willensphilosophie Schopenhauers, wie die weiteren Ausführungen zeigen werden. Ich vertrete in Verfolg dieser Lehre die Anschauung, dass der Wille die Grundbestimmung, das eigentliche Wesen des menschlichen Innern ausmacht. Dies schließt aber die Anerkennung der hohen Bedeutung, ja sogar des Führerrechtes des Gedankens nicht aus. Zweifellos, der Wille ist die Kraft, der Gedanke aber ist die Richtung der Kraft. Und was ist der blinde, richtungs­lose Wille! Das Gefühl aber entzündet sich an den Werten. Die Rangordnung aber der Werte bestimmt ebenfalls der Gedanke.
Die Ideen sind die herrschenden Mächte des Menschenlebens, die Heil verbreiten oder Unheil aussäen. Die Walterin aber der Ideen ist die Philosophie. Die Zeit liegt noch nicht weit zurück, da man von der Philosophie überhaupt nichts mehr wissen wollte, da die Einzelwissenschaften, auf ihre sicheren Ergebnisse pochend, allen Ernstes erwogen, ob die Philosophie nicht aus dem Verbande der echten Wissenschaften auszuschließen sei. Höchstens als eine bescheidene Einzelwissenschaft mit abgegrenztem Arbeitsgebiet wollte man sie noch gelten lassen. Man räumte ihr ein kleines Altersstübchen ein, in Erwartung, dass sie doch baldigst hinschwinden werde. Und die Philosophen selbst ordneten sich willig dieser Rangstellung ein. Ihren ganzen Ehrgeiz erblickten sie eben darin, die Philosophie als eine vollgültige Einzelwissenschaft anerkannt zu wissen, die neben den übrigen Einzelwissenschaften einen berechtigten Platz beanspruchen dürfe. Keine Rede mehr davon, dass die Philosophie als die Gesamtheit und der Inbegriff der menschlichen Vorstellungswelt zu gelten habe. Vollends das allgemeine Loben, zweifellos unter dem Einfluss dieser abschätzigen Beurteilung durch die Wissenschaften, sah die Philosophie als eine völlig nutzlose Bestrebung verstiegener Träumer an.
Es wird nicht leicht fallen, diese Bewertung der Philosophie wieder rückgängig zu machen, die Philosophie in ihre Herrscherstellung wieder einzusetzen. Und doch bin ich überzeugt, dass keine andere Rettung aus der Verwirrung und Verworrenheit unserer Zeit möglich ist. Gewiss, die Philosophie kann irren, schwer irren. Dann aber kann dieser Irrtum auch nur wieder durch die Philosophie berichtigt werden.

Schlussbemerkung (KH)

Der volle Text des Werkes umfasst ca. 190 Seiten.