Kritik des Christentums

Vorwort des Herausgebers

Aus Anlass der Vollendung des 80. Lebensjahres hat Ernst Horneffer im Jahre 1951 einen autobiographischen Aufsatz verfasst, der erst nach seinem am 5.9.1954 erfolgten Tode publiziert worden ist (Die Vereinigte Großloge, 4. Jg. Heft 1-2, Sept./Okt. 1954, S. 25-28). In diesem Aufsatz benennt der Verfasser seine künftigen Arbeitspläne, darunter ein Buch über Schiller sowie sein „eigentliches Hauptwerk“ System der Philosophie (später Philosophie an der Zeitenwende genannt). In einer maschinenschriftlichen Fassung des vorliegenden Werkes bezeichnet er die Kritik des Christentums als „Einleitung zu meinem Hauptwerk“.
Die Kritik des Christentums ist in den 40er Jahren des vorigen Jahrhunderts entstanden und Anfang der 50er Jahre abgeschlossen worden. Vorstudien zu dem Werk sind weit älter und gehen zurück auf die Schrift des Verfassers „Jesus im Lichte der Gegenwart“. Das Hauptwerk seiner Philosophie hat Ernst Horneffer nicht mehr vollenden können. Es ist jedoch von seinen Geschwistern Dr. August und Dr. Martha Horneffer in den Jahren 1954-55 für eine Drucklegung eingerichtet worden, die allerdings nie erfolgt ist. Der Verfasser selbst hat die Kritik des Christentums von dem philosophischen Werk abgetrennt, wohl weil die Schrift einen völlig selbständigen Charakter hat. An einigen Stellen verweist der Verfasser auf seine philosophische Schrift. Diese Verweise hat der Herausgeber jeweils in einer Fußnote mit „Phil.“ gekennzeichnet. Der maschinenschriftliche Text der Kritik des Christentums wurde von seiner Schwester Dr. Martha Horneffer durchgesehen. Abgesehen von einigen Streichungen und formalen Korrekturen wurde dabei nichts verändert. Allerdings erstellte die Bearbeiterin eine Gliederung mit Teilüberschriften. Bei der Digitalisierung der Kritik des Christentums hat der gegenwärtige Herausgeber Gliederung und Streichungen unangetastet gelassen. Anmerkungen wurden in Fußnoten verwandelt und es wurde die vom Verfasser angegebene Literatur in einem Verzeichnis zusammengefasst. Zur Biographie des Verfassers sei auf die Schriften von Helmut Meinhardt und Thomas Mittmann verwiesen.

Klaus Horneffer

Inhalt

Einleitung (Ernst Horneffer, Auszug)

Die Frage nach dem Wesen und dem Bau der Wirklichkeit hat ernst und bedrohlich vor dem nachdenklichen Geist aller Zeitalter gestanden. Aber sehr verschieden war der Grad der Leidenschaft, mit welcher die einzelnen Geschlechter eine Antwort auf die nie erlöschende Frage suchten. Es hat Zeitalter gegeben, die vor dem Rätsel, welches sie so schwer beunruhigte und quälte, einen Vorhang niederließen. Es gelüstete sie nicht, dem beängstigenden Geheimnis nachzugehen. Und andere Zeiten gab es, die sich nicht genug tun konnten, in unablässigen Versuchen, dem Rätsel des Daseins einen, wenn auch noch so matten Lichtschein der Erkenntnis abzugewinnen. [...]

Das immer dringendere Verlangen nach Wahrheit, nach der großen Wahrheit, die bis zum Grunde des Daseins vorzudringen strebt, ist nicht in der Zeit bedingt. Diese stärkere Sehnsucht nach Erkenntnis, die das Leben uns wieder wert machen, uns aus der Unsicherheit der Lebensgestaltung wieder zu festen, glückverbürgenden Grundsätzen führen soll, dieses leidenschaftliche Verlangen entspringt aus der gesamten Geistesgeschichte der europäischen Menschheit, ist die Folge des tragischen Ergebnisses, in welches diese Geistesbewegung eingemündet ist. Dieses Ergebnis ist der unwiderrufliche und unheilbare Zusammenbruch des Christentums. Ich meine bei dieser Erklärung nicht den äußeren Bestand des Christentums, nicht das Christentum als Einrichtung, als Kirche, mit den mannigfaltigen Lebensverhältnissen und Gebräuchen, die das kirchliche Leben hervorgebracht hat. Dies alles wird noch lange bestehen bleiben. Ich meine das Christentum als Glaube, als „Wahrheit“. Die „Wahrheit“ des Christentums ist verblasst, in unaufhaltsamem Hinschwinden begriffen. Ungeheure Folgen müssen dieser Tatsache entfließen. Das seelische Schicksal, welches die europäische Menschheit hiermit erfährt, ist weit mächtiger und bedenklicher als jede noch so gewaltige und gewaltsame Umwälzung der äußeren staatlichen Zustände und der Machtverhältnisse der Völker.[...]

Bestimmung der Hauptaufgabe

Ich hebe nur drei Grundsätze, drei Glaubensvorstellungen des Christentums heraus, welche nach meinem Bedünken unabtrennbar mit dem Christentum verbunden sind, von denen es sich, so lange es seinem eigenen Wesen und seiner Geschichte treu bleiben will, niemals lossagen kann, die aber den gegenwärtigen und künftigen Menschen ebenso unvorstellbar wie unannehmbar geworden sind, weswegen es zum Absterben verurteilt ist.

Das erste ist der christliche Gottesbegriff. Ohne Gottesvorstellung ist in Europa Religion nicht denkbar. Zu tief hat sich dieser Gedanke in das Bewusstsein, in das Herz und Gewissen der europäischen Völker eingesenkt, als dass er jemals wieder daraus verdrängt und verstoßen werden könnte. Religion haben und eine Vorstellung, eine Glaubensüberzeugung von Gott hegen, wird in unserer Geisteswelt immer als ein und dasselbe empfunden werden. Und wenn uns der Ruf entgegenschallt „Gott ist tot“, welchen Nietzsche mit lauter und zugleich schmerzerstickter Stimme hinausgeschleudert hat, so ist zu sagen, das es zum Wesen der Götter gehört, wieder aufzuerstehen. Die krampfhaften, vergeblichen Bemühungen Nietzsches, den Gottesglauben entbehrlich zu machen, Religion ohne Gott, ja wider Gott zu begründen, können diese Gewissheit nur bestärken. Aber welche Vorstellung von Gott soll herrschen? Wie muss der Glaube an Gott geartet sein, wenn er dem Geist und dem Wesen der Menschheit genügen soll? Hier ist zu erklären, dass der Gottesgedanke des Christentums völlig unglaubwürdig geworden ist. Diesem Gotte können wir nicht mehr huldigen. An seinem Gottesgedanken – und die Glaubensüberzeugung von Gott ist das innerlichste Wesen der Religion, die Kraft, von der alle ihre Segnungen ausstrahlen – an seinem Gottesgedanken muss das Christentum zerschellen. Mit diesem Gott hatte es einst gesiegt, an diesem Gotte muss es sterben.

Der Gott, welchen das Christentum glaubt und preist, ist der gütige, milde, barmherzige Gott. Es ist der Gott der Liebe. Dies war die neue Offenbarung, welche das Christentum den Völkern brachte, die die Völker aufhorchen ließ und sie dem neuen Glauben in die Arme trieb. Es ist einzugestehen: es war eine unerhörte Kühnheit, eine gewagte Neuerung, welche das Christentum mit dieser Gotteslehre verkündete. Sie widersprach allem, was die Menschen bis dahin vom Wesen der Gottheit geahnt hatten, widersprach auch allem, was der Augenschein der täglichen Erfahrung mit stärkster Gewissheit lehrte. Hier wurde eine wirkliche Umwertung der religiösen Anschauungen verlangt und vollzogen. Die altjüdische Vorstellung, wie sie uns in den Schriften des so genannten alten Testamentes entgegen tritt, weiß nur von einem strengen, harten, grausamen Gott, der sich allerdings durch flehende Gebete und Opfer zuweilen erweichen lässt, dessen Grundwesen aber Zorn und Härte ist. So aber dachten auch die Griechen von ihren Göttern, die ihnen zwar auch die Spender des Guten waren, vor allem die Gerechtigkeit – als die höchste Tugend betrachteten die Griechen nicht die Liebe, sondern die Gerechtigkeit – die aber andererseits alles Unheil, jede wilde Tücke des Schicksals, jede Torheit, Verblendung und Schuld unter die Menschen ausstreute. Die Menschen vor der Erziehung durch das Christentum lebten in steter Angst vor den Eingriffen der Gottheit, sie zitterten in der Erwartung der von der Gottheit verhängten grausamen Schläge und Schicksale. Da musste ihnen die Predigt: „Gott ist die Liebe“ wie eine heilbringende Erlösung klingen – solange sie glauben konnten, so lange ihnen diese Lehre als wahr erschien. Die Wahrheit dieser Lehre aber konnte ihnen nur glaubhaft erscheinen, solange sie ihre Blicke von der Wirklichkeit abwandten. Dies aber verlangte von ihnen die neue Religion, und das taten die Menschen auch, solange das Christentum in ihnen mächtig war. Die Menschen dieser Zeit legten eine tiefe Kluft zwischen Gott und die Welt. Zwar hatte Gott die Welt geschafften. Aber dann hatte er sie ihrem Schicksal überlassen und für alles, was in der Welt mangelhaft oder gar verwerflich, böse war, trug nicht ihr Schöpfer die Verantwortung, sondern sie selbst in ihrem trotzigen, sündhaften Eigenwillen. So überbrückte, so rechtfertigte man den Widerspruch, der zwischen dem Gott der Liebe und der lieblosen Welt zu klaffen schien. Aber bei dem pantheistischen Grundzug, der die neuzeitliche Anschauung beherrscht, können wir nicht mehr eine so scharfe Scheidung von Gott und Welt vernehmen oder hinnehmen. Wenn Gott der Schöpfer der Welt ist, so ist er auch für alle Wesenszüge und Erscheinungen, welche sie aufweist, verantwortlich, dann fällt alles, was dieser Welt anhaftet und ihr eingeboren ist, auf den Urheber zurück. Der neuzeitliche Mensch hat sich nicht mehr wie der Mensch des frühen Christentums und der des Mittelalters von der Natur ferngehalten. Im Gegenteil, lange Zeit als verbotene Frucht betrachtet, hat die gegebene Wirklichkeit eine unbeschreibliche Anziehungskraft auf ihn ausgeübt, dass er sich mit leidenschaftlicher Hingabe ihrer Erforschung gewidmet hat. Aber er steht ihr nicht nur als ein kühler Beobachter gegenüber, der ihre Gesetze, die Art und Wirkungsweise ihrer Kräfte erforschen will. Die wissenschaftliche Ergründung der Wirklichkeit nimmt allerdings den größten Teil seiner Kraft in Anspruch, und erstaunliche Erfolge, ungeahnte Siege der Erkenntnis sind diesem wissenschaftlichen Streben beschieden worden. Aber es ist noch etwas anderes und selten Bemerktes, was der neuzeitliche Mensch aus der innigen Beschäftigung mit der Natur gewonnen hat. Auch sein Gemüt hat hierbei mitgesprochen, auch seine innere Menschlichkeit ist bei diesem Forschungsweg durch die Reiche der Natur beteiligt gewesen und ist von den Erfahrungen und Eindrücken, die ihm geworden sind, betroffen worden. Aber was schaut und was erlebt denn nun der unbefangene, der durch die wissenschaftliche Schule aller Vorurteile beraubte, klar blickende und folgerecht denkende Mensch, wenn er die Natur auf ihre Wesensbeschaffenheit, ich möchte sagen auf ihren sittlichen Geist befragt? Wahrlich, von einem Gott der Liebe ist in der Natur nichts zu spüren. Eine unerhörte Grausamkeit waltet in allem Naturgeschehen. Die gesamte Natur besteht nur dadurch, dass immer ein Wesen das andere vernichtet und verschlingt. Und dieser wechelseitige Mord entspringt nicht einer abgefeimten Bosheit; kein Sündenfall, weder in der Ewigkeit noch in der Zeitlichkeit, hat diese grausame Verfassung des Daseins herbeigeführt. Der nackte, unmittelbare Lebenszwang nötigt den Wesen dieses Verfahren auf; sie sind, um leben zu können, auf ein solches Verhalten angewiesen. Die ganze Schöpfung ist darauf angelegt, dass die verschiedenen Lebewesen miteinander in ewiger Fehde liegen, einen unablässigen Kampf um den Besitz der unentbehrlichen Hilfsgüter des Lebens führen.

Von der Natur gehen wir zur Geschichte des Menschen über. Welch ein schauerliches Bild tut sich vor dem entsetzten Blick auf! Ein dauerndes, immer nur kurz unterbrochenes Ringen der Völker erfüllt die Geschichte, von den kleinsten Verhältnissen an, indem winzige Nachbarstämme miteinander um die Nahrungsplätze kämpften, bis zu dem furchtbaren Zusammenstoß der größten Völker. Nur ein törichter Wahn kann glauben, dass alle diese Kämpfe hätten vermieden werden können, wenn die Völker nur einsichtig und vernünftig gewesen wären. Ich bin nicht der Überzeugung, dass der Mensch die Notwendigkeiten und Gepflogenheiten der Natur nur zu wiederholen und fortzusetzen berufen ist. Mit dem Menschen ist, wie übrigens auch auf früheren Stufen der Entwicklung des Lebens, ein Neues, Selbständiges, Eigenwüchsiges zur Erscheinung gekommen. Der Mensch bildet Gemeinschaften, die in ihrem geschlossenen Kreise unter den Einzelgliedern den Frieden, hergestellt haben. Aber selbst unter diesen Friedensgesetzen lebt der Wettstreit fort, nur die Formen, unter welchen, dieser Kampf abspielt, haben sich, gewandelt. Die Gemeinschaften als solche aber haben jedenfalls bisher den unerbittlichen Kampf auf Leben und Tod nicht abgebrochen. Es mag sein, und es ist mein eigener und zuversichtlicher Glaube, dass dereinst die Menschheit einen dauernden und gewissen Frieden herstellt. Dies aber wird und kann nur erst dann geschehen, wenn auf dem gesamten Erdball ein Staat herrscht. Nur der Staat mit seiner Macht kann Frieden gebieten und Frieden erzwingen. So lange getrennte Staaten einander gegenüberstehen und sich in die Machtgebiete der Erde teilen, wird unter ihnen der stille oder offene Kampf nicht aufhören, und immer einmal wird der heimliche und sogar geflissentlich abgeleugnete Kampf in offenen Krieg umschlagen. Kaum ist der entsetzlichste aller Kriege beendet worden, der unermessliches Leid über die Menschheit gebracht hat, wie nie ein Krieg zuvor, wie kein Ereignis der Geschichte jemals bewirkt hat – kaum ist dieser grauenhafte Krieg beendet, da erheben sich schon wieder die düsteren Schatten und bänglichen Anzeichen eines neuen, noch gewaltigeren Zusammenstoßes der siegreichen Staaten. Und nach aller geschichtlichen Erfahrung laufen Bündniskriege, bei denen sich mehrere Mächte für ein gemeinsames Kampfziel vereinigt haben, unausbleiblich in neue Gegensätze aus, da sich die siegreichen Mächte über die erzielte Beute nicht zu einigen wissen. Dies wiederholt sich zu allen Zeiten. Nichts berechtigt zu der Annahme und dem frohen Glauben, der letztdurchlebte Krieg sei auch wirklich der letzte gewesen.

Wenn ich den Blick über die Schuttmassen und Trümmer der einstmals blühenden Städte in allen Gauen Deutschlands schweifen lasse, die reich waren an schönen und denkwürdigen Bauten – es war ein versteinertes Bild der Vergangenheit! – wenn ich der unheimlichen Schrecken gedenke, welche die Luftangriffe auf die machtlose Bevölkerung niederfahren ließen, wenn ich mir das namenlose Leid vergegenwärtige, welches die aller Habe beraubten, bettelarmen Flüchtlinge erdulden, namentlich diejenigen, welche auf Nimmerwiedersehn ihre Heimat haben verlassen müssen, ganz zu schweigen vom dem großen, unabsehbaren Heer der Toten, die jeder Familie zu nie erlöschender Trauer entrissen sind – wenn ich mir dies und vieles andere Unnennbare, was das grimmige Schicksal an Kummer, Qual und Verzweiflung über unser Geschlecht verhängt hat – wenn ich mir dies alles vor Augen halte – wie sollte man da noch ehrlicher Weise bekennen können: „Was Gott tut, das ist wohlgetan“! Das will mir nur als grausamer Hohn erscheinen. Ich weiß wohl, was die fromme List einwendet, um das Bild das barmherzigen Gottes, des Gottes der Liebe, zu retten: menschlicher Aberwitz sei es, Gottes unerforschlichen Ratschluss zu ergründen und zu bemängeln. Gottes Wege sind nicht unsere Wege, seine Gedanken sind nicht unsere Gedanken. Dem erwidere ich: andere Beurteilungsgründe als menschliche Einsicht und menschliche Urteilskraft stehen uns nicht zu Gebote. Diejenigen, welche uns den Gott der Liebe aufnötigen wollen, müssen uns glaubwürdige Gründe für diesen Glauben vorlegen. Denn bloß auf „Treu und Glauben“ einen solchen Glauben anzunehmen, ohne den geringsten Grund der Wahrscheinlichkeit, ja im schreienden Widerspruch zu allen Erfahrungen, in schroffem Trotz gegen alle Gesetze der Natur wie im Menschenleben – das kann uns nicht mehr zugemutet werden. Hält man uns aber das Zeugnis der „Offenbarung“ entgegen, dass diese Verkündigung von unbezweifelbarer göttlicher Stelle erfolgt sei, so ist eben dies der Gegenstand unseres stärksten Zweifels. Wir vermögen nicht mehr an das unmittelbare „Wort Gottes“, welches er an die Menschheit hätte ergehen lassen, zu glauben, so dass diese die Wahrheit nicht aus eigener Kraft zu erwerben brauche, sondern dass ihr die Wahrheit einmal für immer geschenkt worden sei. Diese tröstliche Vorstellung findet bei uns keinen Eingang mehr. Wir sehen uns ausschließlich auf die menschliche Erkenntniskraft zurückgeworfen.

Der letzte Gedanke führt uns zu dem zweiten Glaubenssatz des Christentums, der niemals aus dem Gedankenbau des Christentums, ohne es selbst zu zerstören, entfernt werden kann, der aber durch die wissenschaftliche Erkenntnis unwiederbringlich entkräftet worden ist. Dies ist die Stellung Jesu innerhalb der Christlichen Glaubenslehre, der Glaube an seine Göttlichkeit, seine Gottessohnschaft. Ist es bei dem Dogma von dem Gott der Liebe vorzugsweise die Naturwissenschaft, unsere tiefere Kenntnis von den natürlichen Lebensgesetzen gewesen, welche diesen Glauben untergraben hat, so ist es bei der Frage nach der Persönlichkeit Jesu und seiner Wesensart die Geschichtswissenschaft, welche jene mythische Vorstellung zerstört hat. Es ist das unbestreitbare Verdienst der wissenschaftlichen, sogenannten „liberalen“ Theologie, das Bild Jesu in den geschichtlichen Ablauf verpflanzt zu haben. Dadurch aber wird seine Erscheinung ihrer Einzigkeit innerhalb der menschlichen Geschichte entkleidet, seine Göttlichkeit wird damit aufgehoben. Das letztere freilich wollen die Theologen, auch die freiesten und streng wissenschaftlichen Forscher unter ihnen, nicht wahr haben. Im Gegenteil, obwohl sie die Gestalt Jesu ganz mensch1ich erfassen und darstellen mit all den Bedingtheiten, welche jeder geschichtlichen Erscheinung anhaften, wollen sie dennoch seine über allem Wechsel erhabene Sonderstellung in der Geschichte, auf Grund deren er Gesetzeskraft für alle Zeiten und Offenbarungskraft für die göttlichen Geheimnisse besitze, aufrichten. Sie machen die gewagtesten Sprünge, wahrhaft halsbrecherische Gedankenkünste bieten sie auf, den offenbaren Widerspruch dieser Anschauungen zu verschleiern.

Über den Gottesgedanken werde ich an späterer Stelle handeln. Die Gesamtheit meiner philosophischen Untersuchung soll in einer neuen Fassung des Gottesbegriffes gipfeln, worauf ich verweisen muss (vgl. Phil. III, 3). Die Jesusfrage aber muss ich hier eingehend erörtern. Nicht als ob nicht bereits ausgiebig genug und übergenug über Jesus geschrieben worden wäre. Aber diese Arbeiten liegen in den theologischen Fachschriften und Zeitschriften vergraben. Es fehlt an einer zusammenfassenden und abschließenden Darstellung der Ergebnisse der geschichtlichen Forschung, welche auf die Gestalt Jesu verwandt worden ist.

Nur kurz erwähne ich zuvor noch das dritte Dogma des Christentums, das hinfällig geworden ist, ohne welches aber das Christentum nicht bestehen kann, welches mit ihm ebenso unlösbar verkittet ist wie der bestimmende Gottesgedanke und die unbedingte Gültigkeit und Herrscherstellung Jesu. Dies ist die Frage der persönlichen Unsterblichkeit. Ohne diesen Glauben ist das Christentum nicht denkbar. Zerbricht dieser Glaube, so ist das Christentum gefallen. In dem Verhältnis zur Unsterblichkeitsfrage liegt der bedeutsame Unterschied, der die Gegenwart von der Vorstellungswelt des deutschen Idealismus, von der Anschauung des Neuhumanismus unserer klassischen Zeit trennt. Denn alle hervorragenden Männer der damaligen Zeit huldigten noch dem Glauben an das persönliche Nachleben nach dem Tode. Herder und Lessing, Kant, Goethe und Schiller, sie alle hingen diesem Glauben an, hatten sich diese tröstliche Überzeugung aus dem Zusammenbruch der christlichen Gedanken gerettet. Schon aus diesem Grunde muss ein neues Bild der Weltanschauung geschaffen werden. Denn das gesamte Weltbild muss sich grundsätzlich und entscheidend wandeln, wenn das diesseitige Leben unser einziges Leben ist, wenn sich die Bedeutung unseres Daseins in dem diesseitigen Leben erschöpft, in dem hier in Raum und Zeit erlebten Leben seine Erfüllung findet. Aber auch über die Unsterblichkeitsfrage werde ich erst an späterer Stelle, bei dem Aufbau meiner eigenen Gedankenwelt sprechen. (Anm. M. Horneffer: Die Lösung dieser Frage ergibt sich aus Phil. III, 32)

Dagegen ist und bleibt der Kerngehalt des Christentums eben sein Jesusglaube. Man muss sich wundern, dass die philosophischen Werke, welche sich um die Welt- und Lebensanschauung bemühen, so selten oder so unzulänglich zur Jesusfrage sich äußern. Wie will man denn eine Welt- und Lebensanschauung begründen und ausbilden, wenn man nicht über diese Persönlichkeit, die eine so einzigartige Stellung in der Geschichte gewonnen hat, eine klare, unmissverständliche Ansicht bekannt und begründet hat? Es ist doch nicht zu bestreiten, dass der Persönlichkeit Jesu eine unvergleichliche Macht und Bedeutung im geschichtlichen Ablauf zugefallen ist. Wie will man eine unabhängige und gefestigte, vor allen eine entschiedene Haltung in der Frage der Welt- und Lebensanschauung vertreten, wenn man nicht eine klare Stellung gegenüber Jesus bezogen hat? Diese Frage kann nicht allein der Theologie überlassen bleiben. Dies ist eine Angelegenheit der allgemeinen Weltbetrachtung, welche vor das Forum der Philosophie und der Geschichtswissenschaft gehört.

Schlussbemerkung (KH)

Der volle Text des Werkes umfasst ca. 120 Seiten.